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Titel
Levantiner. Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im Osmanischen Reich im "langen 19. Jahrhundert"


Autor(en)
Schmitt, Oliver Jens
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten, Band 122
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johann Büssow, Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin

Die „Levante“ hat derzeit eine gewisse Konjunktur zu verzeichnen. Nicht nur gibt es eine wachsende Zahl von nostalgisch oder touristisch inspirierten Publikationen, die den Begriff im Namen tragen1, auch unter Historikern/innen, Sozial- und Kulturwissenschaftlern/innen scheint sich der Begriff zunehmend als eine Alternative zur Regionalbezeichnung „Naher Osten“ zu etablieren, mit der sich die Verbindungen dieser Region zum gesamten Mittelmeerraum betonen lassen. Solche Verbindungen wurden bis ins frühe 20. Jahrhundert vor allem durch transnational agierende, ethno-konfessionell definierte Gruppen hergestellt, die in der historischen Forschung allerdings unterschiedlich stark beachtet wurden. So liegen zu den sefardischen Juden eine Reihe fundierter Studien vor, und ebenso, wenngleich in deutlich geringerer Zahl, zu verschiedenen christlichen ethno-konfessionellen Gruppen.2 Die Levantiner (römisch-katholische Christen im Osmanischen Reich) jedoch waren, abgesehen von wenigen Publikationen in französischer Sprache, in der historischen Literatur bisher fast gar nicht repräsentiert. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass diese Gruppe in den Dokumenten des osmanischen Staates nicht systematisch erfasst ist, da sie nicht den Status einer in Istanbul offiziell vertretenen Religionsgruppe (millet) besaß.

Oliver Jens Schmitts Habilitationsschrift hilft, diese Lücke zu füllen. Dies ist an sich schon ein Verdienst. Was das Buch aber darüber hinaus zu einer äußerst anregenden Lektüre macht, ist die Tatsache, dass hier ein in mit den Diskussionen innerhalb der deutschsprachigen und europäischen Geschichtswissenschaft vertrauter Historiker mit der Gesellschaft des Osmanischen Reiches befasst, und dies mit Fragestellungen und Quellen, die innerhalb der Osmanistik eher ungewöhnlich sind. Die Studie wird von zwei Hauptinteressen angeleitet: zum einen von der Frage, wie eine per definitionem transnationale Gruppe auf die Nationsbildungsprozesse in Südosteuropa im „langen 19. Jahrhundert“ (1815-1923) reagierte, zum anderen von dem Interesse an den Mustern des Zusammenlebens in den multikulturellen städtischen Gesellschaften im späten Osmanischen Reich. Der regionale Fokus liegt auf den zwei wohl prominentesten Levantinerhochburgen: Izmir/Smyrna und Istanbul/Konstantinopel (die Stadtbezirke Galata und Pera). Die Untersuchung basiert auf einer fundierten Quellenbasis, die in erster Linie aus Akten der katholischen Kirche sowie verschiedener italienischer Staaten besteht, ergänzt durch diplomatische Korrespondenz und durch das offenkundig reiche Material, das in einer leider noch unveröffentlichten Dissertation von Marie-Carmen Smyrnelis erschlossen wurde.3 Osmanische Quellen wurden nicht berücksichtigt.

Der erste Teil der Studie wird eröffnet von einem Kapitel zu Entstehung und Wandel des Begriffs „Levantiner“. Dabei handelt es sich um eine fast ausschließlich von Europäern verwendete Fremdbezeichnung, die zunächst sämtliche Einwohner der Hafenstädte im osmanisch beherrschten östlichen Mittelmeer einschloss, um dann bis zum 19. Jahrhundert schrittweise eingeengt zu werden: zunächst auf alle dort dauerhaft ansässigen Nichtmuslime und schließlich auf die „einheimischen“ Katholiken, die den Gegenstand der Untersuchung bilden. Der Autor dokumentiert das ausgemacht negativ geprägte Levantinerbild europäischer Reisender, das wohl zum großen Teil Ausdruck einer tiefen Irritation darüber war, Menschen anzutreffen, die sich weder als „europäisch“ noch „orientalisch“ qualifizieren ließen und somit die vertrauten Kategorien des europäischen Orientdiskurses in Frage stellten. Die im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmende wirtschaftliche Konkurrenz zwischen eingesessenen Levantinern und neu eingewanderten Europäern mag polemischen Urteilen noch zusätzliche Nahrung gegeben haben. Dieser einleitende Teil des Buches endet mit einer Analyse der Faktoren, die die Lebenswelt der Levantiner im 19. Jahrhundert prägten. Darunter fallen die osmanischen Tanzimat-Reformen, die Kirchen und Konsulate und der jeweils besondere Charakter von Izmir, Galata und Pera.

Der zweite Teil des Buches ist der Gruppengeschichte der Levantiner gewidmet. Schmitt zeigt, dass die Levantiner parallel zu den aus der historischen Literatur bekannten Gründungsmythen der osmanischen millets einen eigenen Gründungsmythos besaßen, der ihren Status innerhalb des osmanischen Staates erklärte und absicherte. Es handelt sich dabei um das Privileg, das Sultan Mehmed II. 1453 bei der Einnahme Istanbuls den ursprünglich genuesischen Einwohnern der Istanbuler Vorstadt Galata gewährte (osmanisch-türkisch ahdname, in europäischen Sprachen capituli oder „Kapitulationen“, S. 122). Die hierbei getroffene Unterscheidung zwischen dauerhaft ansässigen Einwohnern und nur vorübergehend ansässigen Kaufleuten bildete bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Trennungslinie quer durch die römisch-katholische Gemeinschaft im Osmanischen Reich, ab dem 19. Jahrhundert noch zusätzlich überlagert durch die Untergruppen der „Schutzbefohlenen“ verschiedener Konsulate. Die ethnische Zusammensetzung der Levantiner im 19. Jahrhundert war äußerst vielfältig: vergleichsweise wenige Familien, deren Stammbaum bis in das vorosmanische Galata zurück reichte, standen neben einer weit größeren Gruppe von Griechischsprachigen, deren Vorfahren unter genuesischer und venezianischer Herrschaft konvertiert waren und neben zahlreichen, vorwiegend im Handel beschäftigten französischen Immigranten sowie den so genannten „Orientalen“ mit syrischen oder armenischen Ursprüngen. Was dieses Kapitel ganz besonders wertvoll macht, ist die äußerst sorgfältige Synthese statistischer Daten aus den Konsulatsakten, die den folgenden, stärker politik- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Kapiteln eine solide demografische Basis verleiht. Äußerst treffend erscheint auch die Beschreibung des levantinischen Bürgertums mit Hilfe der von Jürgen Kocka anhand mitteleuropäischer Verhältnisse entwickelten Kategorien (S. 228-275). Dieser Ansatz könnte mit Sicherheit gewinnbringend auch auf andere Gruppen innerhalb der osmanischen Gesellschaft angewandt werden.

Der dritte Hauptteil behandelt den Komplex der levantinischen Identität, genauer: die individuellen und kollektiven Strategien, mit denen Levantiner im 19. Jahrhundert versuchten, ihre Identität zu bewahren. Nach einer Übersicht zu identitätskonstituierenden Institutionen und Praktiken – darunter ein faszinierender Exkurs zur Verwendung verschiedener Sprachen und besonders des Frankochiotika („Volksgriechisch“ in Lateinschrift und fast eine eigene „levantinische Sprache“, S. 321-323) – zeichnet Schmitt die Konjunkturen levantinischer Identität nach. Auf Grundlage seines Quellenmaterials grenzt er zwei Phasen voneinander ab: erstens die „schönen Zeiten der Kapitulationen“ in der ersten Jahrhunderthälfte, in denen die levantinische Gemeinschaft unter dem Schutz ihres durch europäisch-osmanische Verträge abgesicherten Sonderstatus prosperierte, und zweitens eine Periode der zunehmenden Einengung ihres Spielraums zwischen den 1860er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg, hervorgerufen sowohl durch eine Einengung ihres Protegéstatus als auch durch wachsende anti-katholische Ressentiments in Europa und den zunehmenden Druck der europäischen Konsulate, sich auf eine nationale Identitäten festzulegen. Schmitt beschreibt, wie die Levantiner diesen Herausforderungen mit einem virtuosen „Spiel der Identitäten“ begegneten, indem sie sie zwischen einer „äußeren“ und schnell wandelbaren Identität als Bürger verschiedener europäischer Staaten und einer „inneren“, wesentlich stabileren, durch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und durch übernationale Verwandtschaftsbeziehungen begründeten Identität unterschieden (S. 397-399).

Der vierte Hauptteil, in dem Schmitt die Stellung der Levantiner in der osmanischen Gesellschaft analysiert, ist dem Thema der interkulturellen Kommunikation gewidmet. Hier gelingt es ihm ein äußerst lebendiges Bild sozialer Interaktion zu zeichnen. Fraglich ist lediglich, ob für solch eine Betrachtung anstelle des an das problematische Konzept von Kulturkreisen gebundenen Terminus „interkulturelle Kommunikation“ nicht der wesentlich voraussetzungslosere und von Schmitt selbst gelegentlich verwendete Begriff der Soziabilität angemessener gewesen wäre.

Schmitts Studie verdient eine breite Leserschaft. Es wird wohl kaum Leser/innen geben, die sich mit osmanischer oder südosteuropäischer Geschichte beschäftigen und hier nicht eine Fülle von bisher unbekannten und höchst aufschlussreichen Details finden werden. Kritisch zu bewerten sind allerdings gelegentlich durchscheinende Wertungen des Autors, etwa wenn er seinem Studiengegenstand vorwirft, „zu sehr Teil der osmanischen Gesellschaft“ gewesen zu sein, um als „dynamischer Mittler europäischer Kultur agieren zu können“ (S. 456). Die Schreibung einiger osmanisch-türkischer Namen und Begriffe ist zumindest ungewohnt (besonders auffällig bei der für ein Wort im Plural eigenartigen Schreibweise „das Tanzimat“). Solche kleineren Versäumnisse werden aber durch den klaren analytischen Ansatz der Studie mehr als Wett gemacht, verbunden mit einer vom apologetischen Tenor vieler Osmanisten erfrischend unbeeinflussten Betrachtungsweise, die es unter anderem zulässt, die im 19. Jahrhundert allgegenwärtigen Ängste vor interkonfessionellen Konflikten deutlich beim Namen zu nennen. Ebenso überzeugend ist das nüchterne Fazit des Autors, die Levantiner eigneten sich nicht als Kronzeugen einer „kosmopolitischen Gesellschaft“. Schmitts eindrucksvolle Monografie bildet so ein heilsames Gegengewicht zu einer gelegentlich anzutreffenden Idealisierung der multiethnischen und multikulturellen Levante vor dem Zeitalter der Nationalstaaten.

Anmerkungen:
1 Dazu gehören auch seit den 1980er-Jahren in großer Zahl erschienene Bildbände in türkischer Sprache. Vgl. auch die Anmerkungen von Schmitt selbst, S. 34.
2 Zu den Standardwerken auf diesem Gebiet zählen: Braude, Benjamin; Lewis, Bernard (Hgg.), Christians and Jews in the Ottoman Empire, New York 1982 sowie Levys, Avigdor mit zahlreichen Veröffentlichungen zu den Juden im Osmanischen Reich, unter anderem: The Jews of the Ottoman Empire, Princeton 1994.
3 Smyrnelis, Marie Carmen, Une société hors de soi. Identités et relations sociales à Smyrne aux XVIIIème et XIXème siècles. Thèse de doctorat nouveau regime, Paris 2000.

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